Von J. S.
Es ist wie ein dunkles Geheimnis, das eines der grauen, hoch über den
Neckar ragenden Häuser umgibt. Von Woche zu Woche umschleicht es das INF 129 wie
eine unruhige Katze, stiehlt sich ins Foyer wie ein allwöchentlicher Gast und schlüpft wie selbstverständlich durch die einladend geöffnete Tür des erleuchteten
Gemeinschaftsraumes.
Es ist viel mehr als ein Ereignis, das hinter
verschlossenen Türen, im Flüsterton oder nur im Aufzug besprochen wird. Es ist
eines der seidenen Bänder, die einige Bewohner des International House
zusammenrücken lassen. Wenn die Zeit reif ist.
Nima K. kehrte soeben vom Einkaufen ins Erdgeschoss des International
House zurück; die Glasfassade hinter ihrer schmalen, hohen Figur war vom
königsblauen Nachthimmel ganz dunkel. Sorgsam platzierte sie beide Einkaufstaschen
neben sich und starrte nun wartend auf den gelb leuchtenden Knopf, der
zuversichtlich signalisierte, dass bald ein Aufzug kommen und ihr den Gang in den
7. Stock ersparen würde.
Nima war gerade in Gedanken an das baldige Abendessen
versunken, als sie eine Mädchenstimme vernahm, die sich eindringlich ihren Weg
durch die Stille bahnte.
„Ich?“, drang es verzagt und dünn aus dem Gemeinschaftsraum. „Aber ich
bin es nicht, ich schwöre es! Lasst mich bitte beweisen, dass ich euch helfen
kann. Ihr werdet es bereuen, wenn ihr mich umbringt.“
Nimas Augenlider zuckten, die runde, damenhafte Stirn kräuselte sich in irritierte Falten.
Sie blickte kurz um sich, so, wie man es tut, wenn etwas Außergewöhnliches passiert
und es zunächst zu prüfen gilt, ob man der einzige Zeuge ist.
„Leute, wir haben nicht ewig Zeit, bringen wir sie nun einfach um?“ Der
dunkle, jungenhafte Ton der zweiten Stimme wirkte entnervt und nicht auf
Widerspruch sinnend. In ihrem festen Klang lag ein ungeduldiges Augenrollen.
„Wa-wa-wwaaas?“ Das Entsetzen schallte so schwer in der Stimme der jungen
Frau wieder, dass sie fast daran zu ersticken schien. Sie hatte scheinbar nicht mit einer
so leichtfertigen Reaktion gerechnet.
Der ernste Tonfall, die Atmosphäre, die plötzlich so angespannt war,
dass sie in der Luft zu zerplatzen drohte, ließen Nima innehalten. Nicht
sicher, ob sie überhaupt richtig gehört hatte und wie sie nun handeln sollte, verharrte sie einen weiteren Augenblick und horchte angehalten Atems in den
Gemeinschaftsraum.
Gemurmel machte sich laut, schwoll zu einem gurgelnden Stimmenbach an
und wurde jäh von der resoluten Jungenstimme unterbrochen.
„Okay, Leute, Ruhe mal kurz.“ Eine gehorsame Stille trat augenblicklich ein. „Ich würde sagen, wir kommen zur Abstimmung. Auf drei stimmen wir ab – Daumen hoch für Leben, Daumen runter für Töten. Eins… Zwei…. Drei!“
„Okay, Leute, Ruhe mal kurz.“ Eine gehorsame Stille trat augenblicklich ein. „Ich würde sagen, wir kommen zur Abstimmung. Auf drei stimmen wir ab – Daumen hoch für Leben, Daumen runter für Töten. Eins… Zwei…. Drei!“
Die anhaltende Verwirrung und die Ungewissheit, die sich mit unbändiger
Neugierde mischte, waren kaum noch erträglich und so entschied Nima, einen
unbemerkten Blick in den Gemeinschaftsraum zu wagen.
Im fahlen Licht der aufgestellten Teelichter sah sie ein blondes
Mädchen stehen. Das lange Haar floss ihr in vollen Locken über beide Schultern.
In ihren haselnussbraunen Murmelaugen lauerten ein entsetzter Blick und der
glasige Hauch einer dunklen Vorahnung.
Ihr gegenüber ein Halbkreis von knapp fünfzehn Menschen, die jeweils
per Handzeichen ihre Entscheidung angaben.
Schwach war zu vernehmen, wie der großgewachsene Diskussionsleiter Zahlen
vor sich hin wisperte und die Auszählung der Stimmen vornahm.
„Klares Ergebnis. Dreizehn zu Zwei. Töten, also.“
Aufbrausender Applaus und Jubel.
„Und? War sie nun ein Werwolf
oder nicht?“, rief ein junger Beisitzender mit Brille ins Getöse.
Die Gesichter der Runde blickten gebannt auf das Mädchen, das beinahe
den Tränen nahe auf der Unterlippe nagte. Es erinnerte an eine Hexenverbrennung
im 16. Jahrhundert.
Schweigen.
Und plötzlich geschah etwas, dass Nima nicht mehr hätte verwirren können.
Mit einem Mal fiel alle Angst, alle Furcht, alle Wut über die scheinbare Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren soll aus dem blassen Gesicht des Mädchens. Stattdessen nahmen freudige Röte und ein breites Lächeln ihr immer selbstbewusster werdendes Antlitz ein. Die vor Traurigkeit noch vor Kurzem ganz kleinen Augen, lebten jäh auf und blickten dunkel und verschmitzt in die Runde.
Und plötzlich geschah etwas, dass Nima nicht mehr hätte verwirren können.
Mit einem Mal fiel alle Angst, alle Furcht, alle Wut über die scheinbare Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren soll aus dem blassen Gesicht des Mädchens. Stattdessen nahmen freudige Röte und ein breites Lächeln ihr immer selbstbewusster werdendes Antlitz ein. Die vor Traurigkeit noch vor Kurzem ganz kleinen Augen, lebten jäh auf und blickten dunkel und verschmitzt in die Runde.
„Werwolf.“, zischte sie mit einer
solchen Kühlheit zwischen den gerade eben noch so warmen, freundlichen Lippen
hervor, dass Nima erschrak.
Noch lauteres Gejubel.
„Sabine, ich wusste es doch.“, tönte eine Frauenstimme aus dem überschwänglichen Stimmengewirr heraus. „Wir haben den Werwolf
getötet!“, rief ein anderer. Ein Schwall an Lob und Anerkennung schlug der
mittlerweile gar nicht mehr verschüchtert wirkenden Sabine entgegen.
Vorsichtig trat Nima einen Schritt zurück, gänzlich überrumpelt von
dieser so seltsamen Situation, deren ungewollter Zeuge sie geworden war.
Das gelbe Licht des Aufzugknopfes erlosch und die graue Tür glitt metallisch zur Seite. Sie warf einen letzten Blick in die ausgelassene Gemeinschaft.
Seltsame Bräuche hat man hier in Heidelberg, dachte sich Nima, griff nach beiden Taschen und stapfte verständnislos den Kopf schüttelnd in den leeren
Aufzug.
Tatsächlich handelte es sich bei diesem skurrilen Spektakel, von dem Nima noch oft ihren Freunden erzählen würde, nicht um einen sonderbaren, deutschen Brauch, der als fast vergessen gilt und in Heidelberg wieder auflebt. Vielmehr handelte es sich um das beliebte Gesellschaftsspiel Die Werwölfe von Düsterwald (im französischen Original: Les loups-garous de Thiercelieux)
Jeden Freitag um 20 Uhr
verwandelt sich der Gemeinschaftsraum des INF 129 in den Düsterwald: Bei Chips
und Kuchen, Butter Chicken und
Salaten, kühlem Bier und kalter Limonade, findet sich eine kleine, und mit
jedem Mal größer werdende Gruppe von Bewohner im Gemeinschaftsraum ein.
Während des Spiels verwandelt sich sie gesellige Runde in eine
Dorfgemeinde, deren Ziel es ist, bei Tage herauszufinden, bei welchen der
anwesenden Bewohner es sich um einen Werwolf handeln könnte. Die Suche
gestaltet sich oftmals als schwierig, da sich die Wölfe schlauerweise nur
nachts zeigen wenn die gutbürgerlichen Bewohner schlafen und bei geschlossenen
Augen nicht mitbekommen, was vor sich geht.
Es gilt für den guten Bürger also, die Werwölfe rechtzeitig zu eliminieren, ehe sie mit jeder Nacht einen weiteren guten Bewohner des Dorfes töten können und das Spiel gewinnen.
Es gilt für den guten Bürger also, die Werwölfe rechtzeitig zu eliminieren, ehe sie mit jeder Nacht einen weiteren guten Bewohner des Dorfes töten können und das Spiel gewinnen.
Jeder Bewohner des Wohnheimes ist herzlich dazu eingeladen, der Dorfgemeinde dabei zu helfen – oder als gewitzter Werwolf aufzublühen und alle ähnlich wie Sabine mit viel Charme und Schauspiel in Erstaunen zu versetzen.
Nicht auf Tippfehler geprüft.
Unterhaltsam! Danke!
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